Den Anschluss verpasst

Den Anschluss verpasst

20. März 2020 0 Von David

Der Lokschuppen ist ein vereinsgeführtes Museum in Selb. Der Modell- und Eisenbahnclub Selb-Rehau versucht, die Bahn-Außenstelle der Stadt und somit einen Teil der lokalen Geschichte zu erhalten. Die ausgestellten Anlagen und Fahrzeuge machen die ehemals hohe Bedeutung der Eisenbahn für die heimische Porzellanindustrie klar. Welche Auswirkungen das langsame Aussterben der Dampflokomotiven in Nordostbayern auf die Wirtschaft hatte, soll das folgende Feature veranschaulichen.


Im Herbst 1960 fährt ein Lokführer der Porzellanfabrik Rosenthal mit der werkseigenen Lok in das Bahnbetriebswerk Selb ein. Die Fahrt zu diesem, für die kleine Stadt Selb überdimensional großen, Ringlokschuppen wird für ihn und für die 48 Tonnen schwere Diesellok der letzte Einsatz sein. Zwei Jahre zuvor hatte der Abbautrupp der Deutschen Bundesbahn alleine im Güterbahnhof Selb die Gleise 11, 13, 14 und 15, sowie das Ausziehgleis 9 abgebaut. Gerade aber der rohstoffreiche Standort und die gute Verkehrsinfrastruktur hatten in den Jahrzehnten zuvor eine lukrative Porzellanindustrie heranwachsen lassen. Arbeitskräfte aus der lokalen Glasindustrie konnten, auf Grund des ähnlichen Produktionsablaufes, schon nach kurzen Umschulungen eingesetzt werden. Sie verwandelten teils seltene Rohstoffe aus den nahen Kaolingruben in Amberg, Pressath, Kemnath und Mitterteich sowie die Kohle aus dem angrenzenden Cheb in das weltweit beliebte „weiße Gold“. Die Anlieferung der Roh- und Betriebsstoffe sowie der Abtransport der Waren wurden meist kostengünstig über die werkseigenen Gleise und mit Fabrik-Lokomotiven abgewickelt.

Diese Einheitsdampflokomotive steht, nach gut 80 Jahren Einsatz in Nordbayern, als restauriertes Prunkstück beim Modell- und Eisenbahn-Club Selb/Rehau.

Die Abschiedsfahrt 1960 in den Selber Lokschuppen war zu jener Zeit kein Einzelfall. Nicht nur der Lokführer der Firma Rosenthal, die 2009 vorübergehend Insolvenz anmeldete, musste den Weg in eine unsichere Zukunft verkraften. Der Lokschuppen, in den der Lokführer damals einfuhr, ist heute ein Museum. Die ausgestellten Züge wie die beschriebene Diesellok Rosenthal, die Elektrolok der Firma „Rehau Porzellan“ und die Schmalspurloks der Kaolingruben und Rohstoffwerken veranschaulichen die Entgleisung eines ganzen Industriesektors. Wie rasant die Rationalisierung in der Branche verlief weiß Bezirksleiter Hartmuth Baumann von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Nordostbayern (IG BCE). „Im vergangenen Jahrhundert arbeiteten alleine in der Porzellanindustrie unserer Region rund 30 000 Arbeitnehmer. Heute stehen nur noch knapp 2200 auf den Lohnlisten der verbliebenen Porzellanbetrieben.“

Das Stellwerk in Selb ist nicht mehr funktionstüchtig, bietet aber ein historisches Ambiente mit Blick auf die Drehscheibe und den Lokschuppen.

Die Personal-Einsparungen bei den Zulieferern sind bei dieser Entwicklung nicht mit eingerechnet. Auch die ehemaligen Mitarbeiter, die im zweistöckigen Sozialanbau des Lokschuppens Selb in der Werkstatt oder im Büro tätig waren, spiegeln sich in diesen Zahlen nicht wider. „Ab 1992 kam der Einbruch“, berichtet Wilhelm Siemen, Gründungsdirektor des Porzellanikons – Staatliches Museum für Porzellan in Selb. Eine Marktsättigung sei damals auf die Devise „Geiz ist geil“ getroffen. Zusätzlich habe der soziologische Wandel neue Familienmodelle mit sich gebracht. „Die Menschen brauchen und wollen häufig keinen klassisch gedeckten Tisch mehr“, meint der Geschichtswissenschaftler. Man gehe essen und lasse sich eher bekochen. Dies brächte aber gerade für die Hotelporzellan-Produzenten große Chancen mit sich. Diese Manufakturen würden die neuen Tisch‐ und Tafel‐Trends bestimmen.

Mache Ausstellungsstücke wurden in den originalgetreuen Auslieferungszustand zurückversetzt.

Diese Entwicklung hat auch der 74-Jährige Designer Hans-Wilhelm Seitz erkannt. Seine Ausbildung schloss der Modelleur bei der Firma Rosenthal in Marktredwitz ab. Darauf folgte ein Studium zum Formenentwerfer an der staatlichen höheren Fachschule für Porzellan in Selb. Seiner Wahlheimat Marktredwitz ist er bis heute treu geblieben. Seine Design-Ideen verwirklicht er aber mittlerweile in Kooperation mit Unternehmen aus dem asiatischen Raum. „Nur durch deren moderne Produktionsverfahren und Anlagen ist eine steile Form und günstige Produktion möglich. Die harten und hohen Kanten meiner neuen Gastronomie-Serie erleichtern das Essen, verhindern das Herunterfallen des Bestecks und machen das Set, in Verbindung mit den Abstandshaltern, platzsparend stapelbar, ohne die Oberfläche zu verkratzen“, meint Seitz. Gerade deshalb sei auch eine Verwendung auf Kreuzfahrtschiffen denkbar. Bei traditionellen Produktionsverfahren würden beim Brennen des Porzellans an den steilen Kanten Risse entstehen.

Seine neue Gastroline-Serie lässt Hans-Wilhelm Seitz in Vietnam produzieren.

Die Gastroline-Serie begeisterte auch die Jury des Designpreises „Red Dot Award“. So durfte Seitz im Frühjahr 2019 auf der Red Dot Gala im Essener Opernhaus einen Preis für das charakteristische Gesamtbild und die Funktionalität seiner Gestaltung entgegennehmen. Deutsche Traditionsunternehmen haben es hingegen bis heute schwer mit dem technischen Fortschritt mitzuhalten. In der vergangen Woche verkündete die staatliche Porzellan-Manufaktur Meissen, dass kurzfristig jede dritte Stelle gestrichen werden muss. An die glorreiche Zeit der deutschen Porzellan-Manufakturen erinnern also häufig nur noch die Museen.

Die Gleise zum Lokschuppen führen die Besucher in eine glorreiche Vergangenheit der Selber Bahn- und Industriegeschichte.

Zurück in der Gegenwart hingegen, auf dem Weg vom Flughafen in das Zentrum der größten chinesischen Stadt Shanghai, kann man die moderne, aufstrebende und lukrative Porzellanindustrie Chinas an sich vorbei ziehen sehen. Umso bitterer, dass man hier eine Lokomotive erleben kann, die wie die deutsche Porzellanindustrie, den Anschluss verpasst hat. Man sitzt bei einer Höchstgeschwindigkeit von 430 Kilometer pro Stunde in einem vergessenen, ehemaligen Prestigeprodukt der deutschen Ingenieurskunst, dem Transrapid.